25 August 2023

Die lineare Karriere gibt es nicht mehr. Wie Führungskräfte und Mitarbeiter mit beruflichen Brüchen umgehen

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Die lineare Karriere gibt es nicht mehr. Wie Führungskräfte und Mitarbeiter mit beruflichen Brüchen umgehen

Viele Angestellte und Manager entscheiden sich bewusst, kürzerzutreten, oder sie schlagen auf dem Weg nach oben einen Umweg ein. Weshalb die Zickzack-Karriere heute die Regel ist.

Karrierebrüche sind ein Schreckgespenst für ambitionierte Mitarbeiter und Führungskräfte – vor allem, wenn sie während Jahren die Hierarchieleiter emporgestiegen sind und nun scheinbar vor dem Nichts stehen. Je steiler und spektakulärer der Aufstieg, umso schmerzlicher der spätere Fall: Die Aussagen gescheiterter Topmanager sprechen Bände: «Die öffentliche Ächtung hat mich tief getroffen, der Karrierebruch mancher Perspektiven beraubt, der Wandel des persönlichen Umfelds nachdenklich gemacht, die Strafuntersuchung erniedrigt und der Prozess aufgewühlt», schreibt beispielsweise Eric Honegger in seinem Buch «Erinnerungs-Prozess». Darin lässt der ehemalige CEO und Konzernchef der SAir-Group die Zeit im Vorfeld und Nachgang des Groundings der Fluggesellschaft Revue passieren.

Die Angst vor der öffentlichen Ächtung

Scheitern und beruflicher Abstieg werden in der Öffentlichkeit in der Regel mit Schmach und Ächtung bestraft – vor allem wenn den Betroffenen die nötige Selbstkritik und Bodenhaftung abhandengekommen ist. Nur wenigen Topmanagern gelingt die spätere Rehabilitierung.

Dabei gehören Rückschläge in der Karriere zum Lebenslauf zahlreicher Führungskräfte und Mitarbeiter. Kaum eine berufliche Laufbahn verläuft heute gradlinig. Unterbrüche, Wechsel und Neuorientierungen sind Bestandteil des beruflichen Lebenslaufs. Eher selten sind sie das Produkt von Missmanagement und Fehltritten, auch wenn die Liste der gestrauchelten Manager lang ist. Häufig sind sie das Ergebnis wohlüberlegter Entscheidungen.

Sheryl Sandberg und Jeff Bezos machen es vor

Prominente Beispiele sind etwa die Rücktritte von Sheryl Sandberg als Co-Geschäftsführerin des Facebook-Konzerns Meta oder Jeff Bezos als CEO von Amazon. Beide begründeten ihren Abgang damit, sich vermehrt persönlichen Projekten widmen zu wollen wie der eigenen Stiftung (Sandberg) oder der Reise ins Weltall (Bezos).

In der Schweiz gab jüngst der Rücktritt der Staatssekretärin Livia Leu zu reden. Leu erklärte, es sei ihre persönliche Wahl, noch einmal ins Ausland zu gehen und einen Botschafterposten zu übernehmen. Wer wolle, könne das als Rückschritt sehen, hielt sie gegenüber den Medien fest.

Auch in der Führungsspitze der Bank Vontobel kommt es zu einem aussergewöhnlichen Abgang: Zeno Staub gibt nach zwölfjähriger Amtszeit seinen CEO-Posten bei der Bank auf und will sich künftig der Politik widmen. Ebenfalls bemerkenswert ist der im Frühjahr bekanntgegebene berufliche Entscheid der ehemaligen «Annabelle»-Chefredaktorin Jacqueline Krause-Blouin: Nachdem sie das Magazin vier Jahre lang geführt hatte, arbeitet sie seit ein paar Monaten wieder als «Annabelle»-Redaktorin.

Downshifting heisst das verbreitete Phänomen von Karriererückschritten. Der Begriff wurde in den Neunzigerjahren von dem Wirtschaftsphilosophen und Mitbegründer der London Business School, Charles B. Handy, geprägt. Wörtlich übersetzt bedeutet Downshifting so viel wie «Herunterschalten». Downshifter entscheiden sich freiwillig dazu, beruflich kürzer zu treten. Sie verzichten auf den traditionellen Karriereweg und die nächste Hierarchiestufe, fangen neu an und entscheiden sich oftmals auch für eine ausgeglichenere Work-Life-Balance.

Warum Personen auf Karriere und Status verzichten

Zu den wenigen Forscherinnen, die sich im deutschsprachigen Raum der Thematik angenommen haben, zählt die Soziologin Julia Gruhlich*. In einer Studie ist sie der Frage nachgegangen, was Menschen dazu bewegt, beruflich kürzerzutreten. Wie legitimieren sie einen solchen Schritt in einer Gesellschaft, in der die Statusverbesserung über eine Aufstiegskarriere als erstrebenswert gilt?

Gestützt auf über zwanzig Tiefeninterviews hat die Forscherin der Georg-August-Universität Göttingen drei typische Ursachen herausgearbeitet. Wenig überraschend zählt der Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu den wichtigsten Gründen des Downshifting. Es sind allerdings nicht nur Mütter, die beruflich kürzertreten. Zu den interviewten Personen zählten auch Väter oder Frauen ohne betreuungspflichtige Kleinkinder. Die zweite Gruppe der Downshifter besteht laut Gruhlich aus Personen mit psychosomatischen Erkrankungen wie Burnout oder Depressionen. «Die Betroffenen waren einem starken Leidensdruck ausgesetzt», sagt die Forscherin. «Sie spürten, dass sie so nicht weiterarbeiten konnten.»

Die dritte Gruppe hatte sich der Arbeit entfremdet. Sie hätten in ihrer Tätigkeit keinen Sinn mehr gesehen, so führt Gruhlich aus. Personen aller drei Gruppen hätten bei ihrer Entscheidung, ihre berufliche Situation zu verändern, nicht unbedingt ein alternatives Ziel vor Augen gehabt. «Es war zunächst eher eine Flucht aus einer Leidenssituation, die sie nicht auf anderen Wegen lösen konnten. Mit dem Downshifting ist es ihnen gelungen, ihre Handlungsfähigkeit wiederherzustellen», sagt die Forscherin.

Die eingeschlagenen Wege unterscheiden sich hierbei voneinander: In der Untersuchungsgruppe habe es Personen gegeben, die ihr Arbeitspensum reduziert, ihre Führungsaufgabe aufgegeben oder innerhalb des Unternehmens eine neue Funktion mit weniger Prestige wahrgenommen hätten, erzählt Gruhlich. Einige Personen hätten wiederum einen völlig neuen Beruf in Angriff genommen, unter ihnen eine Professorin, die sich selbständig gemacht habe und Coach geworden sei, oder ein Manager, der sich zum Yogalehrer habe umschulen lassen.

Nicht selten sei die berufliche Veränderung mit einem längeren Suchprozess sowie einem deutlichen Status- und Einkommensverlust verbunden gewesen. Doch wie Gruhlich ausführt, hat kaum ein Interviewpartner seine Entscheidung bereut. Vielmehr hätten die meisten den beruflichen Wechsel als einen Akt der Selbstermächtigung empfunden.

Downshifting kann die Karriere beflügeln

In einem kürzlich erschienenen Beitrag im «Harvard Business Review» führt die Professorin und Autorin Dorie Clark aus, weshalb ein vorübergehendes Downshifting der akademischen oder beruflichen Karriere sogar förderlich sein kann: «Wenn Sie sich jetzt die Zeit nehmen, einen Gang zurückzuschalten, mag es sich so anfühlen, als ob Sie einen Schritt zurück machten», schreibt Clark. «Aber es kann Ihnen auch die Energie und die Klarheit geben, die Sie brauchen, um in Zukunft schneller und effektiver voranzukommen.»

Der gegenwärtige Zeitpunkt sei ideal, um neue Energie zu tanken, ermutigt Clark ihre Leserschaft. Denn viele Menschen würden nach der Pandemie ihre Prioritäten und Erwartungen neu bewerten. Downshifting bedeutet im Urteil der Professorin nicht, «dass man alles hinschmeisst. Es kann sogar bedeuten, dass Sie endlich erkannt haben, was nötig ist, damit Leistung und Ehrgeiz nachhaltig sind».

Auch bei Linkedin ruft man seine Mitglieder dazu auf, Mut zur Lücke zu zeigen. Im vergangenen Jahr hat das Karriere-Netzwerk die neue Option «Career-Break» im Linkedin-Profil eingeführt. Damit können seine Mitglieder Zeiten und Aktivitäten beschreiben, die «gefühlt» nicht in einen Lebenslauf oder in die berufliche Laufbahn passen. Die Sichtbarkeit auf dem Profil soll laut Linkedin dazu beitragen, dass eine solche Erfahrung zunehmend als selbstverständlich gilt und nicht länger zum (vermeintlichen) Karrierehemmnis wird.

Karrierepausen und berufliche Lücken sind weit verbreitet

Laut einer vom Netzwerk durchgeführten Erhebung unter rund 23 000 Arbeitnehmenden haben immerhin zwei Drittel der Befragten zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer beruflichen Laufbahn eine Pause eingelegt. In den Firmen und Personalabteilungen stossen solche Lücken im Lebenslauf vor allem auch in Anbetracht des Fachkräftemangels zusehends auf Akzeptanz. Laut Linkedin ist rund die Hälfte der Arbeitgeber der Ansicht, dass Kandidaten mit beruflichen Unterbrechungen einen ungenutzten Talent-Pool darstellen.

Selbst in der Beraterbranche, die für den steilen Karriereaufstieg schlechthin steht, spricht man von einer erhöhten Offenheit gegenüber beruflichen Unterbrüchen. «Es gibt sie nicht mehr, die lineare Erwerbsbiografie», sagt Jens Hohensee, der Leitende Karriereberater Zentraleuropa bei der Boston Consulting Group. Früher habe man in den Personalabteilungen noch die Nase gerümpft, wenn im Lebenslauf eines Kandidaten eine berufliche Lücke von mehreren Monaten vorhanden gewesen sei. Heute interessiere das niemanden mehr, sagt der Personalexperte. Die erhöhte Akzeptanz hänge stark mit den veränderten Lebensmustern und den Präferenzen der jungen Generation zusammen.

Von der Sekretärin zur Autorin und Firmenchefin

Die Berufswege und Lebensläufe von heute weisen Dellen auf und sind spiralförmig geworden. Paradebeispiel für eine solch spiralförmige Karriere ist der Lebenslauf der Amerikanerin Whitney Johnson. Sie begann ihre Laufbahn als Sekretärin bei der Bank Salomon Smith Barney an der Wall Street, nachdem sie mit 27 Jahren, also relativ spät, ihr Musik- und Anglistikstudium abgeschlossen hatte. Bei ihrem ersten Arbeitgeber schaffte sie den Aufstieg ins Investment Banking.

Nach drei Jahren wechselte Johnson zu Merrill Lynch in den weniger glamourösen Job der Equity-Research-Analystin. Fünf Jahre später kündigte sie, produzierte eine TV-Show und schrieb ein Kinderbuch. Danach bloggte sie über gesellschaftliche und berufliche Themen und gründete zusammen mit dem Wirtschaftswissenschafter Clay Christensen einen Hedge-Fund.

Wahrscheinlich sei das die neue Realität, sagt die heutige Chefin eines Beratungsunternehmens für Führungskräfte und Autorin mit Blick auf ihren Lebenslauf. Johnson verweist darauf, dass bereits die Baby-Boomer-Generation in den USA zwischen ihrem 18. und 54. Lebensjahr im Durchschnitt 12-mal einen Jobwechsel vollzogen habe. Auch in der Schweiz und in Deutschland wechseln Arbeitnehmer im Durchschnitt alle vier Jahre ihren Arbeitgeber. Bei der jüngeren Generation dürfte sich die Entwicklung noch akzentuieren. Worauf man bei solchen Zickzack-Karrieren achten sollte, hat Johnson in ihrem Buch «Disrupt Yourself» festgehalten.

Mit Leidenschaft neue berufliche Wege beschreiten

Wie die Autorin ausführt, geht es darum, sich neue Job- und Karrierechancen zu schaffen, indem man anders handelt, indem man sich einen Beruf sucht, für den man Leidenschaft mitbringt, auch wenn dafür vielleicht die geforderte Ausbildung fehlt. Die erfolgreichsten Innovationen seien schliesslich diejenigen, die einen neuen Markt oder Wertschöpfung kreierten und Bestehendes umkrempelten, sagt Johnson in Anlehnung an die Theorie der disruptiven Innovation. Dies funktioniere auch auf persönlicher Ebene.

Sie fordert Stellensuchende und Arbeitnehmende dazu auf, die eigenen Stärken zu nutzen: «Wählen Sie einen Job, den niemand anders ausführen könnte, anstelle mit 50 Bewerbern um dieselbe Stelle zu konkurrieren. Statt auf demselben Karriereweg nach oben zu drängen, bewegen Sie sich seitwärts oder sogar die Leiter hinunter.»

Dabei verweist Johnson auf ihren eigenen beruflichen Werdegang: Sie sei eine gute Finanzanalystin gewesen, aber viele Personen seien gut darin, Modelle zu entwickeln. Was Leute an ihr schätzten, sei die Fähigkeit, Verbindungen zwischen verschiedenen Bereichen zu erkennen und Möglichkeiten zur gegenseitigen Befruchtung auszumachen.

Disruptive Pfade führen zum Erfolg

Laut Johnson erweitert man durch Jobwechsel nicht nur seine beruflichen Fähigkeiten. In eine neue Rolle, Branche oder Art von Unternehmen zu wechseln, heisse oftmals, sich auf einen völlig anderen Wachstumspfad zu begeben. Dabei gelte es, flexibel zu bleiben, einen Schritt vorwärts zu machen, Feedback einzuholen und sich entsprechend anzupassen. Solch disruptive Pfade sind im Urteil von Johnson in vielerlei Hinsicht erfolgversprechend – nicht nur finanziell, sondern auch in sozialer und emotionaler Hinsicht.

Nicht jeder sollte oder möchte den traditionellen Pfad verlassen. Doch Johnson spricht Veränderungswilligen Mut zu, andere Wege einzuschlagen, Rückschläge und Umwege in Kauf zu nehmen, um nicht nur beruflich, sondern auch persönlich zu wachsen. Zickzack-Karrieren, Umorientierungen oder auch Rückschritte sollten nicht länger ein Schreckgespenst sein.

*Dr. Julia Gruhlich forscht an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.

Quelle: NZZ - Neue Zürcher Zeitung

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